Twitter und/oder Fediverse oder
Das verflixte 16. Jahr. Zu meinem 15 Jahre Twitter fragte ich mich, ob ich mich auf die nächsten 15 Jahre freue. Um gleich die Antwort zu geben: nicht wirklich. Das war im August 2022. Im Oktober/November 2022 übernahm ein etwas sehr geldreicher Mensch Twitter. Und die schon im August angesprochene Betroffenheitsmaschine wandelte sich in eine Panikmaschine. Gefühlt die Hälfte derjenigen, denen ich auf Twitter folgte, wechselten ins Fediverse. Zuerst halbherzig, indem sie ihren Twitteraccount spiegelten, viele dann auch konsequent. Teilweise hatte das für mich etwas von Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Ich freute mich, dass mein schon länger existierender Account im Fediverse, https://mastodon.social/@t73fde, etwas lebendiger werden konnte. So bekam ich gut mit, wie die Neumieter im Fediverse sich freuten, wenn sie jemanden aus dem Twitter-Stall nun auch dort fanden. Aber auch ich erstellte neue Accounts, für Agiles Studieren und für Zettelstore. Entsprechende Twitteraccounts gab es schon.
Genügend viele blieben auf Twitter. Im Endeffekt war das alles ein Beispiel dafür, wie bei vielen Programmiersprachen genutzter Hauptspeicher von freiem, ungenutzten getrennt wird: Garbage Collection, auch wenn es eigentlich nicht der „Müll“ ist, der gesammelt wird, sondern die wertvollen Artefakte. Und so wechselten ganze Filterblasen geschlossen ins Fediverse, während andere geschlossen auf Twitter blieben. Wenn man so will, entstanden nun sowohl die „Judäische Volksfront“ als auch die „Volksfront von Judäa“. Die einen eher bestehend aus, durchaus nicht nur negativ gemeint, Gutmenschen, Es-schon-immer-besser-wissenden. Die anderen aus, nicht nur positiv gemeint, Pragmatikern, Es-schon-immer-besser-wissenden. Beide mit genügend Propaganda, Marketing, Selbstbeweihräucherung.
In den Anfangszeiten dieser Trennung habe ich in beiden Welten gerne einmal einen jeweils identischen Tweet/Post geschrieben, um zu sehen, welcher Inhalt wo Resonanz verursachte. Alles natürlich nicht allgemeingültig zu interpretieren. Aber es gab Resonanz.
Resonanz gibt es de facto seit einiger Zeit kaum noch. Ja, es reagieren jene, mit denen ich auch persönlich verbunden bin. Danke dafür! Insgesamt auf beiden Plattformen sind es vielleicht 10 Personen. Dafür braucht man nicht in sozialen Medien sein, da reicht ein Messenger mitsamt zwei, drei, vier Gruppen. Wenn man sich auf einen Messenger einigen könnte.
Unbekannte Menschen über soziale Medien kennenzulernen, das war einmal. Ohne Twitter hätte ich nicht Stephan List, Thomas Michl und viele andere kennengelernt. Thomas hat mich mit Heinrich Kümmerle bekannt gemacht. Viele Gastvorträge sind nur deshalb zustande gekommen, auch wenn ich manchen nicht mehr folge (und sie mir auch nicht mehr). Einblicke in neue Denkweisen, ob ins mein fachliches oder in Soziologie, Philosophie, andere Logiken. Es wurde auch mal kritisch gedacht, konstruktiv hinterfragt, auf relevante Beiträge verwiesen, nicht nur auf interessante. All das gibt es so gut wie nicht mehr.
Twitter und das Fediverse sind nur für Propaganda, Marketing da, selten auch für Nachrichten. Dave Winer meinte es letztens ganz treffend:
When you use the web to work with each other, you are using the web correctly. Almost no one does that. Instead people use the web to draw attention to themselves. The replies I get are mostly people trying to tag their names along with something someone else wrote to get more flow for them, more followers. It's a strategy. It's basically spam. It's not very social imho.
Resonanz, Gespräche, das gibt es so gut wie nicht mehr. Und wenn, dann eher als DADA. Oder es gibt Resonanz, wenn sich jemand in seinem Weltbild verletzt fühlt und dabei übersieht, dass auch andere gültige Weltbilder gibt.
Meine Accounts zum Agilen Studieren und zum Zettelstore erhalten so gut wie gar keine Resonanz mehr. Insgesamt folgen mehr als 270 Accounts, aber niemand von denen will interagieren. Das mag an den Inhalten liegen, könnte man meinen. Die haben sich aber nicht geändert. Also müssen sich die Menschen hinter den Accounts geändert haben, und deren Netzwerk.
Das „Gesetz“ von Robert Metcalfe besagt, dass sich der Nutzen eines Netzwerks grob quadratisch mit der Anzahl der Knoten im Netzwerk ändert. Wenn sich also gefühlt die Hälfte meines aktiven Netzwerkes auf Twitter ins Fediverse bewegt, dann sinkt der Nutzen für Twitter auf ein Viertel, ein Viertel wandert ins Fediverse. Nach diesem Modell hat sich der Gesamtnutzen halbiert.
Das erklärt in Teilen die fehlende Resonanz meiner anderen Accounts. Ich sehe nicht, dass sich das ändern wird. Also werde ich die vier Nebenaccounts demnächst schlafen legen. Die eine oder der andere könnte meinen Hauptaccounts folgen. Vielleicht ergibt sich etwas daraus. Und sonst, siehe oben: Garbage Collection.
Was passiert mit den beiden Hauptaccounts? Erstmal wenig. Ich werde beobachten. Auch hier: vielleicht ergibt sich etwas. Vielleicht werden Twitter und/oder das Fediverse wirklich nützlich. Und wenn nicht? Dann mache ich das, was ich sowieso selbst schon mache: niederschwellig Propaganda, Marketing. Automatisiert meine Posts ankündigen. Irgendetwas „lustiges“ weiterleiten, bevorzugt aus Entenhausen. Publish or perish. Popcorn holen. Das Blog pflegen, Zettelstore weiterbauen. Leben. Ungewöhnlich bleiben.
Ja und dann taucht immer noch die Frage auf, was man an Twitter und/oder am Fediverse ändern müsse, damit es relevanter wird. Für Twitter ist der Eigentümer zuständig.
Im Fediverse wiederholt sich einiges, was es vor zig Jahren auf Twitter gab. Endlich habe man eine eigene Stimme, die von anderen gehört werden kann. Ja, ist nichts neues. Und nein, niemand wird gezwungen, einem zuzuhören. Aber Twitter wird ja von einem bösen Menschen betrieben, der auch viele Menschen entlassen hat. Ob der Mensch böse ist, kann ich nicht beurteilen. Und erstaunlicherweise wird Twitter weiter entwickelt und läuft aus technischer Sicht. Waren die entlassenen Menschen dafür notwendig? Ich weiß es nicht, ahne höchstens. Tatsächlich wird auch das Fediverse in der Mehrheit von Menschen benutzt, die selbst keinen Blog o.ä. betreiben wollen und/oder können. Auf Twitter war/ist man im Stall, dort ist man inzwischen und schon recht lange Teil des Produkts. Das Fediverse ist da eher die Mietwohnung. Aber, aber, man kann doch seinen eigenen Server im Fediverse betreiben. Stimmt. Wer das kann, kann auch einen eigenen Blog betreiben. Umgekehrt gilt das nicht.
Aus meiner Sicht ist die Stärke des Fediverse zugleich dessen größte Schwäche: Dezentralisierung. Es gibt keinen zentralen Dienst, der eine Zensur o.ä. durchsetzen könnte. Und wenn dies der Server tut, auf dem man zur Zeit ist, so kann man häufig genug wechseln. Zugleich verhindert das die Anwendung des Netzwerkeffekts. Das Fediverse ist fragmentiert, eine globale Suche gibt es nicht. Jede Serverbetreiberin macht ihr eigenes Ding. Pluralistisch sagen die einen. Die anderen erwidern: so pluralistisch wie eine Stadt aus lauter Mietshäusern. So oder so gibt es genügend Eigensinn, manchmal auch erst nach einiger Zeit, z.B. des Moderierens. So betreibt der Verein, in dem ich Mitglied bin, selbst eines Mastodoninstanz. Würde ich dorthin wechseln? Never ever. Auch wenn der Vorsitzende des Vereins, der mich gerne mal ausgrenzt, wohl keinen direkten Zugriff auf diese Instanz hat, so hat doch jede Betreiberin einer Instanz vollen Zugriff auf meinen Account und könnte im Zweifelsfall sogar Tröts nachträglich ändern. Da bleibe ich lieber auf einer Instanz, wo ich eher in der Masse nicht auffalle.
Ergo, das Fediverse ist keinen Deut besser oder schlechter als andere „soziale Medien“. Nicht umsonst besitzt „Sado-Maso“ die gleiche Abkürzung. Unabhängig von der Plattform zeigen diese Medien, wie sehr sie tatsächlich asozial sind. Kommt gerade herein: Anti-Social Media. Was ich im August 2022 über Twitter schrieb, lässt sich auch aufs Fediverse übertragen. Warum auch nicht, viele waren vorher auf Twitter. So ist es ebenfalls eine Betroffenheitsmaschine, eine Plattform der Besserwisser und der überwiegenden Einwegkommunikation. Da wird gekreischt und getrötet, auch wider besseres Wissen. Nun nein, auch LinkedIn ist nicht besser, höchstens ebenfalls anders. De facto führen uns soziale Medien in ein Zeitalter der Durchschnittlichkeit. Ergänzend dazu: SpongeBob S06E04a („Normal ist das nicht / Not Normal“).
TL;DR: soziale Medien scheinen ihren Zenit schon länger überschritten zu haben. Sie leben vom vergangenen Schein. Der Mensch als soziales Wesen benötigt andere, aber nicht so viele. Alle sozialen Medien zeigen, wie asozial sie ab einer gewissen Größe sind. Dank des Netzwerkeffekts sinkt der Nutzen mit der Fragmentierung überproportional. Ich selbst lege meine Nebenaccounts schlafen und werde nur noch über die beiden Hauptaccounts kommunizieren, wenn es mir sinnvoll erscheint. Zum Glück kann ich dieses Blog betreiben, muss weder in eine reine Mietwohnung oder in den Stall.
Wer mir gute, nicht zu IT-technisch orientiere Blogs empfehlen kann: danke!
(Das erinnert mich daran, mal meine Blogroll zu aktualisieren.)