Prof. Dr. Detlef Stern

Infrastruktur

Als Infrastruktur wird gerne der Unterbau eines Systems bezeichnet, den dieses benötigt, um seine Funktion auszuüben. Viele denken da zuerst an Elemente wie Stromversorgung, Straßen, Entsorgung, vielleicht auch an saubere Luft. Diese und weitere gehören zur Daseinsvorsorge der meisten Staaten.

Auch auf anderen Ebenen gibt es Infrastruktur. Wenn man es genau überlegt, benötigt jedes nicht-atomare System so etwas wie Infrastruktur. Eine Aufgabe einer Hochschule ist es zum Beispiel, die Infrastruktur für Lehrveranstaltung, inkl. Prüfungen bereitzustellen. Unternehmen benötigen Infrastruktur, um das jeweilige Unternehmensziel zu erreichen. Manchmal ist das Ziel nicht nur monetär definiert. Viele Organisationen benötigen Menschen, also ist die Personalabteilung ein Teil der Infrastruktur. Tatsächlich ist die meiste Verwaltung / Administration nichts als Infrastruktur. Eine Verwaltung forscht nicht, sie leistet keine Lehrveranstaltungen, sie stellt nichts her. Sie befähigt „nur“ andere, die eigentliche Kernaufgabe zu erfüllen.

Natürlich ist des einen Infrastruktur der anderen Kernaufgabe. Ohne regelmäßige Reinigung der Gebäudeinfrastruktur würde vielen die Ausübung der Kernaufgabe stinken. Wer reinigt, der möchte sich nicht mit der Herstellung von Reinigungswerkzeugen und -material beschäftigen.

Zu häufig wird die Notwendigkeit der Infrastruktur nicht erkannt. Zum Beispiel meinte ein Teilnehmer ein Onlinegesprächsrunde letztens, jeder Teilnehmer sei frei, die Runde zu verlassen. Nun, das stimmt häufig genug nicht für den Gastgeber des Gesprächs. Diese Person ist nicht frei. Wenn sie die Runde verlässt, dann ist das Gespräch wenigstens für eine Zeit beendet. (Und ja, auch ich weiß, wie man in diesem Fall die Rolle des Gastgebers zumindest manchmal auf einen anderen Teilnehmer übertragen kann, wenn diese Person es möchte.)

Was für den einen Infrastruktur ist, das ist für andere Firlefanz. Wieder am Beispiel von Onlinebesprechungen. Letztens las jemanden, der sich darüber amüsierte, wie häufig sich Menschen bei Onlinebesprechungen vor Bücherregalen inszenieren würden. Quasi als Beleg der Belesenheit. Kann sein. Kann aber auch sein, dass die Bücher für diese Person eine Infrastruktur zur Wissensarbeit darstellt. Warum soll diese extra für eine Onlinebesprechung weggeräumt werden? Mit dem gleichen Recht könnte man behaupten, dass diejenigen, die sich den Hintergrund herausrechnen lassen, damit angeben wollen, dass ihr Computer leistungsfähig genug ist, oder dass sie den dazu notwendigen Befehl gefunden haben.

Sehr schön die Aussage mancher Studierender, nachdem die IT-Systeme meiner Hochschule vom Internet getrennt wurden, um einen Cyberangriff abzuwehren. Da wurde geklagt, man könne nicht mehr auf das Lernmanagementsystem zugreifen (um Vorlesungsunterlagen herunterzuladen) oder keine Bücher mehr ausleihen. Die Infrastruktur, der Internetanschluss, wurde so schmerzlich vermisst, dass viele vergaßen, dass man in diesem Fall auch ganz einfach vor Ort auf den Campus kommen kann. Dort waren die Systeme lokal verfügbar, die Bibliothek geöffnet und nach ein, zwei Wochen konnte man auch wieder elektronische Medien ausleihen. Geklagt wird immer noch.

Vielen wird eine Infrastruktur erst dann bewusst, wenn diese nicht mehr verfügbar ist. Das kann ein Cyberangriff sein, Naturkatastrophen, ein Krieg, oder zu viel Schnee / Hitze beim Bahnfahren. Dann erst bemerken viele die (gewollte) Abhängigkeit von einer Infrastruktur. Sie ist gewollt, da wir uns auf andere verlassen, diese Infrastruktur bereitzustellen.

Nun könnte man probieren, sich dieser Abhängigkeiten zu entledigen. Beispiel Stromversorgung: um unabhängiger zu werden, könnte man sich eine Solaranlage aufs Dach stellen. Was ist, wenn man zur Miete wohnt? Einen Generator, der mit Ölprodukten betrieben wird? Wie stelle ich halbwegs sicher, dass meine Solaranlage auch im Winter genügend Strom liefert? Wie stelle ich die Versorgung mit den Ölprodukten sicher? Und ehe man sich versieht, baut man eine eigene Infrastruktur auf. Mit Folgen für die eigene Abhängigkeit.

Ohne Frage ist der Aufbau einer Zweit-, Dritt-, Viertinfrastruktur in vielen Fällen nicht falsch, besonders wenn diese auf einer anderen Strukturebene erfolgt. Auch bei mir gibt es eine kleine Vorratsecke mit Ess- und Trinkbarem, Kerzen, Streichhölzern, und was sonst noch so gerne empfohlen wird. Man muss sich nur klar sein, dass hierfür Menschen und Ressourcen benötigt werden, die dann für anderes nicht zu Verfügung stehen. Schon wieder eine Abhängigkeit.

Zumal die meisten Ressourcen sehr endlich sind und somit so gut wie jede Infrastruktur zwar gemeinsam genutzt, aber dennoch erheblich begrenzt ist.

Was bedeutet das für das Konzept der Freiheit, sofern damit mehr als die Freiheit der Person gemeint ist?

Bin ich frei, Infrastruktur in beliebigem Ausmaß zu nutzen? Natürlich nicht. Die Begrenztheit der Infrastruktur setzt dem Grenzen, zumal man dann andere in der Freiheit beschränkt, diese Infrastruktur ebenfalls wenigstens halbwegs angemessen zu nutzen. Oder: die Nutzung einer Infrastruktur verringert die Verfügbarkeit einer anderen. Beispielsweise Straßennutzung und saubere Luft.

Wer sich in diesem Sinne Freiheiten herausnimmt, also andere in ihren Freiheiten erheblich beschränkt, sollte sich nicht auf den Begriff Freiheit berufen. Diese Person / Gruppierung darf gerne eine eigene Infrastruktur aufbauen. Passiert zum Beispiel in den Gated Communities. Bloß übersehen diese dann, dass die Community dann besser unter einer eigenen Glasglocke gebaut werden sollten. Oder die Person / Gruppierung könnte Vorschläge machen, wie Infrastruktur den neuen Bedürfnissen angepasst werden könnte, ohne das dies bei zu vielen anderen erhebliche Einschränkungen bedeutet.

In diesem Sinne ist niemand frei, höchstens hoffentlich als Person. Aber selbst als Personen sind wir soziale Wesen, benötigen also andere, also eine Infrastruktur, also Abhängigkeiten. Selbst wenn man das Niveau einer Amöbe einnehmen möchte. Dann verliert man das Bewusstsein für diesen Aspekt des Lebens, was aber nichts ändert. Außer die Freiheit der Person, so als Amöbe.

Ehe ich es vergesse: natürlich gibt es auch Infrastrukturen in Systemen der Informatik ;)