Prof. Dr. Detlef Stern

Kinderohren

Elf Kinder schauen mich erwartungsvoll mit großen Augen an. Aber was mache ich hier?

Ich bin in der Heilbronner Dammgrundschule. Hier im Erdgeschoss befindet sich ein Raum, in dem normalerweise entspannt, gebastelt und gespielt wird. In diesem Raum bin ich mit den elf Kinder. Die schauen mich immer noch erwartungsvoll an.

Vorlesen

Es sind nicht irgendwelche Kinder. Sie sind die eine Hälfte der Klasse 4b. Die andere Hälfte ist gerade mit Ihrer Lehrerin zusammen. Warten Sie etwa darauf mit der ersten Hälfte zu tauschen? Bilde ich mir ein.

Was ich hier mache? Ich lese gleich den Kindern etwas vor.

Zum Vorlesen bin ich über die Heilbronner Aktion "Man(n) liest vor" gekommen. Als Teil der bundesweiten Aktion Wir lesen vor soll auch bewusst gemacht werden, dass die meisten Kinder Vorleseerfahrungen überwiegend durch Frauen erleben. Bei vielen Jungen bleibt so hängen, dass Vorlesen (und auch das Lesen an sich) eher Frauensache ist. Lesen wird für sie "uncool". In unserer vernetzten Informationsgesellschaft ist das nicht so gut.

So wurde ich Vorlesepate. Die Kinder werden unruhig.

Seit Ende November lese ich in der Klasse 4b vor. Begonnen haben wir mit einigen Kapiteln aus "Alice im Wunderland". Rätselgeschichten waren im Februar angesagt. Danach eine Indianergeschichte. Und jetzt eine über Piraten zur Zeit von Klaus Störtebeker.

"Wann fangen Sie denn an? Wir sind doch schon ruhig" höre ich den coolsten Typ der Klasse fragen.

Lesen verändert. Vorlesen auch. An manchen Vorlesetagen scheinen die Kinder fast erleichtert den Raum zu verlassen. Aber es gibt immer wieder helle Momente. Der coole Typ von eben argumentierte kürzlich noch sehr körperbetont. Letztens fragte er mich, ob er nicht auch einmal der Klasse vorlesen dürfe. Natürlich durfte er. Und er hört auch zu, wenn ein anderes Kind vorliest.

Ist das etwa das Scharren ihrer Füße? Oder das Spitzen ihrer Ohren?

Zwei besonders hibbelige Mädchen haben die Kuschelecke entdeckt. Ohne es zu wissen meditieren sie beim Klang unserer Stimmen. Ein türkischer Junge setzt sich gerne neben mich, um ins Buch zu spicken. Vor zwei Wochen hat er mich erwischt, als ich den Inhalt anders als im Buch wiedergab. Selbst gelesen ist eben anders als beim Vorlesen zuzuhören, erklärte ich ihm. Vor einer Woche empfahl er mir das Buch, das er gerade zu lesen begonnen hat.

Auch mit vielen kleinen Schritten kann man(n) etwas bewegen. Aber nun geht es los. Pssst!

Elf Kinder schauen mich erwartungsvoll mit großen Augen an. Das nächste Kapitel unseres Buches Seeräuber vor Sylt! heißt: "Geheime Pläne".

P.S. der nächste bundesweite Vorlesetag ist am 26.11.2010. Schon mal vormerken.